Brexit ganz persönlich

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Rein in die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln. Der britische Regierungschef David Cameron hat seinem Wahlvolk im Jahr 2013 versprochen, die Mitgliedschaft Großbritanniens in der Europäischen Union (EU) neu zu verhandeln und danach über den Verbleib in der EU abstimmen zu lassen. Brexit: ja oder nein. In dieser Woche treffen sich die Regierungschefs der Europäischen Union zu einem sogenannten Gipfel, um über Wünsche und Forderungen der Briten zu beraten Schon mehrfach gaben die Bürger Großbritanniens ihr Votum zur EU ab. 1975 wollten 67,2 Prozent Mitglied der damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) bleiben. Acht Jahre später will die Labour-Party und die von ihr geführte Regierung nach einem Wahlsieg die EWG verlassen. Labour verliert die Wahlen deutlich.

Danach sieht die Europa-Bilanz Großbritanniens eher mau aus. 1984 ertrotzt die Regierung von Margaret Thatcher einen „Briten-Rabatt“ bei Agrar-Subventionen. 1991 wird der Vertrag von Maastricht unterzeichnet; allerdings behält sich Großbritannien das Recht vor, die geplante gemeinsame Währung nicht einzuführen. 1995 wird das Schengen-Abkommen unterzeichnet; Großbritannien (und Irland) macht nicht mit. 2002 wird der Euro eingeführt; Großbritannien (Dänemark und Schweden) macht nicht mit.

Es bisschen schwanger geht nicht. Die Insellage der Bevölkerung prägt ihren Charakter. Zu Europa gehören: ja! Zur EU gehören: nein!? Obwohl die Welt anscheinend immer enger zusammenrückt, Entfernungen immer mehr an Bedeutung zu verlieren scheinen und die weltweite Kommunikation in Sekundenbruchteilen zustande kommt, lassen sich die Bürger GBs allen Ernstes erneut befragen, ob sie denn Teil der Europäischen Union bleiben möchten. Was hilft? Dem Geografen hilft zunächst ein Blick auf einen Globus. Man kann das Ding drehen und wenden wie man will: Amerika, Asien und Australien sind weit weg von GB, und Europa ganz, ganz nah. Der Blick des Geografen geht natürlich über die rein physische Betrachtung hinaus. Die Kulturlandschaft Europas ohne GB? Ausgeschlossen, möchte man meinen. Die angeblich so geschichtsbewussten Briten – Engländer, Schotten, Waliser und Nordiren – stolpern in ihrem Alltag unentwegt über Daten und Ereignisse ihrer Geschichte, klammern sich geradezu an ihre Großtaten, pumpen sich zu vielen Anlässen am eigenen Heroismus auf – und wollen doch den Anschluss an das (Festland)Europa verlieren?

Niemandem ist Irrationales fremd, selbst dem an Pragmatismus gewöhnten Bürger GBs nicht. Es heißt, die jüngste Zuwanderung aus Europa, vor allem Polen, sei den Briten nicht bekommen. Ihre Sozialsysteme müssten vor Überforderung geschützt werden. Die britische Regierung will bei Fragen um den Euro stärker mitbestimmen. Das britische Parlament soll Entscheidungen des Europäischen Parlaments ablehnen dürfen. Das Land will nicht zur Integration oder zu noch mehr Integration in ein gemeinsames Europa verpflichtet sein. Ja du lieber Himmel, das hört sich doch nach Verhandlung und Kompromiss an, denn nach Abschied für unbestimmte Zeit!

Die großen Dinge hängen mit den kleinen zusammen und umgekehrt. Manch deutsch-englischer Freundschaftskreis ist in die Jahre gekommen und braucht neuen Schwung – und vor allen Dingen junge Leute. Was macht eigentlich ein solcher Kreis, wenn der Austritt aus der EU tatsächlich eine Mehrheit findet? Schreibt er die Satzung um, stellt er den Betrieb ein und verschwindet ganz aus dem öffentlichen Bewusstsein?

Was machen die Fußballer Mesut Özil, Per Mertesacker und Roland Huth, wenn sie künftig nicht mehr EU-Ausländer mit Arbeits- und Wohnrecht in GB sind, sondern „echte“ Ausländer sein werden? Ein solche Frage schien bislang außerhalb des Horizonts zu sein.

Und noch näher rückt die Frage, was ist mit dem Teil der Familie, der seit Jahren in GB wohnt und arbeitet, Kinder großzieht, Steuern zahlt und das Bruttoinlandsprodukt des Landes stärkt, wenn von jetzt auf gleich der Vorhang fällt und sich GB von der übrigen EU trennt? Passkontrolle ist noch heute. Visumzwang noch nicht. Eine unschöne Vorstellung!

Intelligente Europäer werden nach und nach GB verlassen, lautet meine Prognose. Die Eigenarten der Völker dieser Welt lassen sich nur langsam verändern. Das ist auch gut so. Da machen die Briten keine Ausnahme. Die Eigenheiten lassen sich jedoch ertragen, wenn der Anschluss an die Welt – in diesem Fall die EU als der wichtigste Partner GBs – jederzeit gewahrt, also die Fähigkeit sich anzupassen permanent geübt wird. Der Fluss von Geben und Nehmen, vergleichbar mit Ebbe und Flut sowie Kommen und Gehen, hält eine Gesellschaft intakt und anpassungsfähig. Grenzen ziehen, neuerdings mit Stacheldraht versehen und Gewehr im Anschlag. Wer, um Himmels willen, will denn so etwas wiederhaben? Die Briten?

Rein in die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln? Angenommen, nach einem Brexit brächte ein wirtschaftlicher Niedergang GB auf den Hund, weil der wichtigste Partner – die EU – sich auf sich selbst besinnt und die Briten – wie von ihnen entschieden – außen vor hält? Käme dann wieder eine Entscheidung zugunsten der EU zustande? Weil es ohne EU doch nicht ginge?

Ein Austritt GBs aus der EU freute Putins Russland, das sich selbst auf dem Weg rückwärts befindet und Schwächungen anderer gern sähe. Ein Austritt gäbe solchen politischen Kräften in der EU Auftrieb, denen der Gedanke an ein vereintes Europa immer schon zuwider war, denen 70 Jahre Nachkriegsgeschichte aus dem Blick gefallen sind und die partout nicht anerkennen wollen, dass das Schmoren im eigenen Saft auf Dauer und im Ganzen gesehen das eigene Ende herbeiführt.

GB verlöre durch einen Brexit also an Fähigkeit, sich selbst zu erneuern, und zwar durch den Verlust an Offenheit und den Mangel an bewusst in Kauf genommener täglicher Herausforderung. Es folgte dem Irrweg: Fremde bleiben draußen, wir lassen uns gar nichts mehr sagen; da soll doch ‚mal einer kommen; wir sind wir! Gerade die Insellage verführt dazu, sich auf sich zu besinnen und die Welt draußen machen zu lassen. Bis dann eines Tages, wenn die Welt draußen sich verändert hat und auf neue Aufgaben vorbereitet ist, die Briten erleben müssen, dass sie hinterherhinken, verloren haben!

Brexit. Der Begriff klingt nach Brekkies, also nach (einem bekannten) trockenem Katzenfutter, jedenfalls nicht nach schmackhafter, bekömmlicher Nahrung für aufgeklärte Menschen. Brexit. Brexit. Brexit. Eigentlich klingt es zum Kotzen. Wenn schon nicht ‚mal das Wort gefällt, dann missfällt auch die Sache für das es steht. Ich hoffe auf ein Machtwort der Queen. Das wär’s doch!


Bildnachweis: © pixabay.com – tpsdave

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