Brexit ganz persönlich, die Dritte

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Es soll also an einem Donnerstag passieren, und zwar am 23. Juni 2016, mitten in einer gewöhnlichen Woche des laufendes Jahres. Die Bürger Großbritanniens und Nordirlands sollen ihr Ja oder Nein sagen zur Europäischen Gemeinschaft, der anzugehören sie bislang den Vorzug hatten. Sie sollen sich bekennen oder sich abwenden. Es steht also eine Entscheidung an, deren Bedeutung für die Geschichte des Landes, für Europa und die Welt zur Zeit nicht abzuschätzen ist.

Wer auf britische Landkarten schaut, wundert sich über die vielen Eintragungen zu historischen Ereignissen; es wird der Eindruck erweckt, das Land sei eine einzige Geschichtslandschaft, in der Stadt, Land und Fluss eher eine Nebenrolle spielen. Eine kontinentaleuropäische Karte nach britischen Maßstäben gezeichnet, sähe nicht viel anders aus. Wo und wann waren die Briten nicht schon im Einsatz, um ihre Interessen mit militärischen Mitteln zu verteidigen. Sie entschieden im vergangenen Jahrhundert zwei Weltkriege mit, die nach ihrem Selbstverständnis siegreich bestanden wurden, und die, nach einigem zeitlichen Abstand betrachtet, sie selbst in arge Not und ins Hintertreffen brachten. Immer wieder versuchten sie, eine Machtbalance zu erhalten, damit nur ja kein Land des Kontinentaleuropas zu stark und damit eine Gefahr für GB werden könnte. Beispiele dafür sind der Spanische Erbfolgekrieg gegen Frankreich (1701 bis 1714), der Österreichische Erbfolgekrieg (1740 bis 1748) gegen Preußen, dann der Siebenjährige Krieg (1756 bis 1763) auf der Seite Preußens erneut gegen Frankreich. Damals gewann England Kolonien hinzu, stieg zur Weltmacht auf, die sich auf die eigene Industrie und die entfernten Kolonien stützte. Die Mehrheit der eigenen Bürger verblieb dabei im Elend. Hochadel, Adel und Großbürgertum bestimmten die Geschicke; ihnen ging es gut.

Das Rote Fort in Delhi (#1)

Das Rote Fort in Delhi (#1)

Der Niedergang des Britischen Weltreichs – des größten jeweils vermessenen Gebietes unter einer einzigen Herrschaft mit einem Viertel der damaligen Weltbevölkerung – begann mit den zwei Siegen im 20. Jahrhundert und dem Erstarken des Selbstbewusstseins anderer Völker und Ethnien. Schon 1931 erhielten die Kolonien die formale Gleichstellung innerhalb des Commonwealth. Oberhaupt war – wer ahnt es nicht – das englische Königshaus. Seit 1947 bekamen die Kolonien nach und nach ein Selbstbestimmungsrecht zuerteilt, oft nicht ganz freiwillig, sondern den Zeitläuften der Weltgeschichte geschuldet. Kolonien waren einfach nicht mehr up to date. Die letzte Rückgabe erfolgte im Jahr 1997: Es war die Kronkolonie Hongkong.

Der 23. Juni 2016 stellt sich aus heutiger Sicht anders dar. Das Bewusstsein der (einstigen) eigenen Größe wirkt in GB nach. Die Länder der Europäischen Nation ließen sich nicht so einfach einverleiben, nachdem sie den Briten 1973 den Eintritt in die Gemeinschaft gestattet hatten. Auf dem Festland hatten die jüngsten katastrophalen Weltereignisse Spuren hinterlassen. Größenwahn in Verbindung mit Herrschaftssucht hatten ausgedient. Das Gemeinsame sehen, bewahren und entwickeln: Das waren die Zeichen der Zeit. Der große Binnenmarkt erwies und erweist sich als der entscheidende Lockvogel. Wer wollte da, noch dazu als direkter Nachbar, außen vor bleiben? Selbst europäische Eigenbrötler wie Norwegen und Schweiz richten sich nach den Regeln der Gemeinschaft, um selbst bestehen zu können. Briten tun sich da offensichtlich schwer. Weltherrscher, Empire, Commonwealth, Weltkriegssieger: Wer will danach schon gern auf Normalmaß kommen oder gebracht werden? Wer die Regeln zu bestimmen gelernt hat, hält die Vorgaben anderer für eine Zumutung. Wer der Weltsouverän war, soll sich an denen orientieren, die er einst besiegt und beherrscht hat? Das tut weh. Das ist ohne Schmerzen nicht zu haben. Wenn schon Mitglied einer Gemeinschaft, dann natürlich mit Sonderrechten. Die Sondernummer muss es sein, alles andere würde als nicht britisch empfunden.

Cape-Coast-Festung in Ghana, der früheren britischen Kolonie "Golden-Coast" (#2)

Cape-Coast-Festung in Ghana, der früheren britischen Kolonie „Golden-Coast“ (#2)

Spielen solche Ansichten in der aktuellen Situation zum Brexit in GB eine Rolle? Eher nein. Bürger von GB fühlen sich durch Zuwanderer bedrängt, die sie durch EU-Recht nicht abwehren können. Von Polen zum Beispiel. Alle, die es über Deutschland hinaus gebracht haben und jetzt in GB eine Arbeit fanden und finden, werden zunächst als bedrückend und nicht als bereichernd empfunden. Da geht es den Briten nicht anders, als den einheimischen Bürgern Kontinentaleuropas. Nach meiner Kenntnis sind es eher die vielen muslimischen Einwanderer, die das Straßenbild verändern und den – gerade dem anglikanischen Puritanismus entronnenen – Bürger vor eine neue, noch dazu religionsverseuchte Herausforderung stellen. Reiche Potentaten aus Arabien und auch russische Potentaten kaufen sich in teuerste Wohngegenden ein, treiben die Immobilienpreise hoch, verdrängen das angestammte Publikum, das wiederum die nächstniedrigere Schicht zur Seite drängt und so weiter und so weiter. London als Finanzmetropole und als Rückzugsnest der Superreichen strahlt eine Stärke aus, die dem Land nur oberflächlich gut bekommt.

Der aktuelle Londoner Bürgermeister Boris (!) Johnson hat sich auf die Seite der Brexit-Fans geschlagen. Sein Kalkül – das nicht nur hier unterstellt wird – ist: Scheitert David Cameron mit seinem Bestreben, GB in der EU zu halten, dann ist sein Weg frei für das Amt des Premierministers. Das persönliche Machtstreben des bei den Leuten beliebten Politikers, die momentane allgemeine Unzufriedenheit mit der Bevölkerungsentwicklung im eigenen Land, gepaart mit Unkenntnis über eine Gemeinschaft, in der GB eine starke Rolle spielt (spielten könnte), sowie die höchstens durch die eigene Geschichte zu erklärende Sucht zur Selbstüberschätzung führen am Ende wohlmöglich zu einer unheilvollen Entscheidung: Europäische Gemeinschaft ohne Großbritannien und Nordirland.
Wie schon an anderer Stelle gesagt: Ein einziger Blick auf den Globus müsste die Augen öffnen.

Das Victoria-Memorial in Kalkutta (#3)

Das Victoria-Memorial in Kalkutta (#3)

Die Verluste durch einen Brexit sind nicht kalkulierbar, heißt es vor allem in Wirtschaftskreisen. Diese Kreise ahnen mehr, als dass sie es wüssten: Das europäische Netzwerk entstand und entsteht unter permanenter Anstrengung und Schmerzen aller Beteiligten seit Jahrzehnten. Klein hat es angefangen, zum weltweit größten Binnenmarkt hat es die EU schon gebracht. Kriege unter den Beteiligten? Fehlanzeige. Regionale Konflikte, herrührend aus längst vergangenen Zeiten – Beispiel Nordirland – verlieren an Wucht und Bedeutung, weil die EU bislang so stark war und solche Schwächen auffing.

Freunde des Brexit sind übrigens USA und Putin-Russland. Ein kleineres und geschwächtes Europa scheint leichter handhabbar, verlöre an Einfluss. Doch im Kleinen wie im Großen gilt, und das wird leicht übersehen: Wer andere klein macht oder dabei hilft oder nur zusieht, wächst selber nicht. Nicht einmal ein bisschen. Hoffen wir also, dass vernunftbegabte Briten wenigstens am 23. Juni 2016 einen hellen Moment haben und eine Mehrheit bilden.


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