Wer es mit der Europäischen Gemeinschaft (EU) gut meint, der sollte David Cameron und George Osborne Fortune wünschen. Der aktuelle britische Premierminister und sein Schatzkanzler haben sich positioniert: Sie wollen Großbritannien in der EU halten; sie werben dafür, am 23. Juni 2016 – einem Schicksalstag Europas – gegen den sogenannten „Brexit“ zu stimmen. Gemeinsam und im Verbund mit vielen weitsichtigen Briten stellen sie sich dem Ansturm der Gegner.
Die derzeitige Zerreißprobe ist von Widersprüchen und Paradoxien geprägt. Ein Teil des Regierungskabinetts steht für Drinbleiben, der andere Teil für Austreten. Geht es in der öffentlichen Diskussion um Europafragen, Brüssel, Straßburg und die Kommission? Nein, solche Dinge stehen derzeit am Rande. Das Thema Einwanderung beherrscht die Szene. Ein deutscher Staatsbürger, der seit mehr als zehn Jahren in London lebt und arbeitet, beobachtet, dass die „Brexit“-Debatte eine Immigrations-Debatte geworden ist. Vergleichsweise schadlos, hat das Land Einwanderungswellen aus Indien, Pakistan, Bangladesch und Afrika überstanden. Für die jüngste Welle aus Bulgarien, Rumänien und vor allem Polen wird die EU verantwortlich gemacht. Von den stillen und fleißigen Polen fühlt sich manch tapferer Brite aus dem Hinterland überrannt. Dabei sind es gerade solche Neubürger, die die Gesellschaft wirtschaftlich stabilisieren. Die „Brexit“-Befürworter predigen einerseits, den Zugang von unten zu schließen – der mit harter Arbeit und geringem Lohn verbunden ist. Andererseits wünschen sie sich weiteren Zugang zur Mitte der Gesellschaft und von oben – häufig genutzt von reichen arabischen Großfamilien. Die lassen erkennen, dass sie die Vorteile eines Rechtsstaates für ihre private Lebensführung schätzen und dass sie ansonsten mit der heimischen Gesellschaft nichts zu tun haben wollen. Einwanderungswillige und -fähige Bürger der EU sollen draußen bleiben, begüterte Gesellschaftsverächter sind willkommen!
Der Gouverneur der Bank of England, Mark Carney, ein Kanadier, kündigte an, dass die von ihm geführte Institution der heimischen Wirtschaft genügend Kredite zur Verfügung stellen würde, falls es durch einen „Brexit“ zu ökonomischen Verwerfungen kommen sollte. Er ist der erste Ausländer, der die über 300 Jahre alte Bank führt. Seine Aussage befeuerte die aktuelle Debatte gerade unter Wirtschaftsfachleuten. Die „Brexit“-Fans spuckten Gift und Galle, ist seit Carneys Beruhigungspille doch klar, dass es zu Verwerfungen kommen könnte! Das Märchen, es werde durch den Austritt sicher alles besser. verliert seither an Kraft und Wirkung. Auch an anderer Stelle hakte es. John Longworth, Chef der britischen Handelskammer, trat vor Kurzem von seinem Posten zurück. Die Kammermitglieder waren nach interner Diskussion mehrheitlich zu dem Ergebnis gekommen, dass ein „Brexit“ der heimischen Wirtschaft schaden würde. Longworth ließ durchblicken, er sei ein Befürworter des Austritts. Er hatte es kaum ausgesprochen, da war der nicht mehr Chef der Handelskammer. Selbst auf schmutzige Tricks wird zurückgegriffen: Das Brüllblatt „Sun“ legte der Queen den „Brexit“ in den Mund. Die alte Dame kann sich dagegen kaum wehren; sie müsste dann öffentlich Stellung beziehen; und das darf sie nicht.
Zurück zu Cameron und Osborne. Welche Strategie sollten sie einschlagen, um ihren (Wahl)Bürgern einen Verbleib in der EU nahezulegen? Es gibt die Strategie des liebevollen, freundlichen und sachgerechten Umganges getrennter Welten; sie besteht aus vier Schritten: immer bestätigen, nie widersprechen, überall hin folgen, und das Ergebnis gemeinsam bestaunen. Was weiß der einfache Bürger von den beiden Politikern, was die Politiker von ihren Bürgern? Na, allzu viel dürfte das nicht sein. Die Strategie lässt sich also anwenden. „Brexit“! Ja, warum nicht? Ich will wieder alleine sein! Sicher doch, ist doch schön. Ich hab‘ mit der EU nichts am Hut! Brauchst du ja auch nicht. Und wohin verkaufe ich meine Produkte? Na ja, verkaufen musst du sie ja! Aber wohin? Na, das geht schon. Aber ich will sie doch verkaufen! Sicher doch. Wenn ich in der EU bin, kann ich dorthin verkaufen! Wenn du das sagst. Richtig. So oder in Variationen könnte also eine Debatte geführt werden. Die „Brexit“-Fans bestärken, ihren Weg zu gehen; ihnen die Richtung lassen, damit sie dorthin kommen, wo sie schon immer hinwollten; welche Überraschung, es handelt sich um eine Gemeinschaft, die sie respektiert, mag und braucht.
Das Cameron-Osborne-Duo kämpft nicht nur um die Sache, sondern um die eigene politische Existenz. Beide sind Mitglieder der Konservativen Partei, und die ist beim „Brexit“-Thema gespalten. Scheitern sie, ist das Duo Vergangenheit. Angenommen, die Briten votieren für den Austritt, dann sollen ausgerechnet jene Politiker mit der EU über die Austrittsmodalitäten verhandeln und möglichst günstige Bedingungen für GB erreichen, die derzeit durch die Lande ziehen und kein gutes Haar an der Gemeinschaft lassen? Der vermeintliche Sieg wird spätestens dann zur bitteren Niederlage. Niemand in der EU hätte ein Interesse daran, den Briten einen roten Teppich zum Austritt auszurollen.
Die britische Gesellschaft hat sich von einer Industrie- zu einer Dienstleistungsgesellschaft gewandelt. Das wird paradoxerweise dann erkennbar, wenn er britische Premierminister die Stärke der heimischen Industrie während der Eröffnungsfeier für ein japanisches Automobilwerk lobt. Der Verlust der Kolonien, das Verkümmern des Empire, der Niedergang als Industrieweltmacht, das Gestutztsein auf europäisches Normalmaß: Das alles schmerzt die britische Seele. Ein heilsamer Schmerz, der, wenn er vorüber ist, einen vom Zwang, etwas ganz Besonderes sein zu müssen, befreiten Bürger hervorbringt, einen, der mitfühlend, freundlich und hilfsbereit ist, der auf sich und andere schaut und einen, der sich sicher sein darf, seinen Platz in der Gemeinschaft hat.
Wir hatten zu Beginn der Serie „Brexit ganz persönlich“ auf den Globus geschaut und gesehen, wohin Großbritannien gehört. Daran hat sich in der Zwischenzeit nichts geändert. Wir verbleiben in der Hoffnung, dass die beunruhigende Diskussion bald ein Ende hat. Sie kostet Kraft und Nerven. Es verhält sich wie in jeder Familie, wenn eines ihrer Mitglieder meint, aus der Reihe tanzen zu müssen: Alle sind gefordert, das ihre zu tun, damit die Familie zusammenbleibt. Empathie statt Abkehr, Eigenständigkeit statt Symbiose, Solidarität statt Egoismus. Lassen die Briten Herz und Verstand walten? Wer diese letzte Frage mit einem Ja beantwortet, kennt das Abstimmungsergebnis schon jetzt. Nach guter britischer Tradition wird ein Tipp über den Ausgang am 23. Juni 2016 abgegeben: 60 Prozent werden für den Verbleib in der Europäischen Gemeinschaft stimmen. Ein gegenteiliges Ergebnis nähmen wir ganz persönlich!
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